Das bin ich!

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Mittwoch, 20. Januar 2010

@ United Anarchists - Kreuz und Adler

Liebe Schwestern und Brüder!

Noch im Alter von 32 Jahren dachte ich, dass wir in einem Rechtsstaat lebten, obwohl ich sehr kritisch war und die Medien verfolgte, die als kritisch galten. Mir bekannte Skandale hielt ich für Einzelfälle. Die Systematik des Wahnsinns wurde mir erst am eigenen Leibe klar:

http://freegermany.de/winfried-sobottka/ruhrnachrichten-artikel.html

Im Zuge der damaligen Ereignisse wandte ich mich an alle, von denen ich dachte, sie würden helfen können. Es wollte niemand helfen. Dafür lernte ich viele andere Opfer des selben Unrechtssystems kennen, erfuhr von ihnen, was sie erlebt hatten und noch erleben mussten. Seitdem ist mir klar, dass ich bis zu meinem 33. Lebensjahr einem gigantischen Trug aufsaß. Es war ein Trauma für mich, dass ich verarbeiten musste, zudem suchte ich den Sinn des Unrechts bzw. den Sinn, den die Verrückten, die es betrieben und betreiben, dahinter sehen.

Ich begann zu schreiben, einen Roman. Den ersten Teil, wie ich ihn damals geschrieben hatte, könnt Ihr unten lesen. Ausgangspunkt ist eine Schilderung, die originär nicht von mir ist - ich vermute, sie irgendwann bei Thomas Mann gelesen zu haben. Sie muss mich sehr tief beeindruckt haben, denn als ich den Roman aus dem Kopfe begann, muss es mindestens 20 Jahre her gewesen sein, dass ich jene Schilderung gelesen hatte, von der ich nicht einmal mehr weiß, wo (evt. Zauberberg).

Zu berücksichtigen, dass ich damals selbst noch die Bezeichnung "Christus" verwandte, was natürlich falsch ist: Jesus wollte nie ein "Christus" sein.

Herzliche Grüße

Euer

Winfried Sobottka, United Anarchists






Kreuz und Adler
der familiensonntag
Torben Holten saß zwischen seiner älteren Schwester Heike und seiner
Mutter Hilde, wie jeden Sonntag ganz vorn in der Nähe des Altars. Wie
haßte er doch den sonntäglichen Kirchgang, das Stillesitzen auf
den kalten Holzbänken über kühlem Stein, das ehrfurchtsvolle
Schweigen der anwesenden Gemeinde, während die kalt und steinern
klingende Stimme des Gemeindepfarrers Rübsam ihm stets
das gleiche zu verkünden schien, als wolle sie immer und immer
wieder jeden einzelnen Stein des Fußbodens umdrehen. Selbst
das Licht der Sonne wagte sich nur kühl gedunkelt in diese Kirche,
denn die großen Fenster aus dunkelfarbigen Gläsern verweigerten
allem den Zutritt, was ihr Licht an warmer Helligkeit bot. Torben schien
es, als drohe er mit den Holzbänken zu verwachsen, als wolle das
weiß gekälkte Kirchgewölbe ihn auf jene hinabdrücken, so daß
jeder Versuch, aufzustehen und zu fliehen, ohne jede Aussicht auf
Erfolg bleiben müsse. Zudem saß er ja inmitten der Reihe, flankiert
von seiner keine Regung zeigenden Schwester, die zwischen seinem
Vater und ihm eingeklemmt war, und von seiner Mutter, der einzigen
in der Familie, die womöglich einen höheren Sinn in Rübsams
Gottesdienst erkennen wollte, indem sie jenen wahrlich als
Sprachrohr Christi anzusehen schien, durch das ihr sonntäglich die
Verkündigung des Evangeliums zuteil werde. Torben hatte es immer
noch nicht herausgefunden, ob seine Mutter den Pfarrer Rübsam so
sah, ihn so sehen wollte oder ob sie gar Gründe hatte,
nur so zu tun, als sähe sie ihn so. Wie jeden Sonntag während der
Predigt streifte Torben auch diesen Gedanken, wie jeden Sonntag
fand er Anhaltspunkte für das eine, das zweite und das
dritte, aber sicher klären konnte er die Frage so wenig wie stets
zuvor. Etwas erträglicher wurde ihm die Situation, auch wie jeden
Sonntag, dadurch, daß er seinen Vater und seine Schwester ebenfalls
auf das Ende des Gottesdienstes schmorend warten wußte. Seinen Vater,
der durch sein Verhalten jede beliebige Eigenschaft vorzuspiegeln
wußte, der, wenn er sich aber gab, wie er war, bestenfalls für
den zu ertragen war, der ungezügelter Demütigung mit Leidenschaft
entweder ausgesetzt sein oder ihr zumindest beiwohnen konnte. Torben
haßte seinen Vater, der andere nach seiner Meinung herabsetzte und
beschädigte, um vor sich selbst nur als umso strahlender dar-
zustehen, dessen ganzes Tun Torben nur eine einzige Lüge zu sein
schien.
Es war nicht ungewöhnlich,
daß der Vater die Mutter in die Verzweiflung trieb, daß
ihre Augen tränten und schwollen, daß sie jede Lebenslust auf
Tage verlor, sich nur mit einem eisernen Durchhaltewillen
von einem Tage zum nächsten zu retten schien und sich dabei
bemühte, wenigstens die Situation der Kinder erträglich zu ge-
stalten. Wenn sie auch durchaus geschickt versuchte, ihr Leid
nach außen zu verbergen, so sprachen die tiefen Falten, die
sich weit vor der Zeit in ihr Gesicht gegraben hatten, unver-
meidlich die Wahrheit. Torben liebte die Mutter, konnte es aber
nicht verstehen, daß sie sich, statt sich zu wehren, klaglos in ihr
Schicksal fügte. Wenn dieser Gottesdienst tatsächlich der Mutter
Entspannung oder gar Freude gab, so hatte er ein Gutes, zudem
wurde der Vater ja durch die wöchentliche Predigt nach Torbens
Ansicht immerhin etwas, wenn auch viel zu wenig bestraft.
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Torbens Schwester hingegen,
die, zwei Jahre älter als Torben, gerade 14 war, sich in arroganter
Weise aber stets anmaß, sie sei bereits so gut wie erwachsen, er,
Torben, sei jedoch noch das Kind; die alles besser wissen wollte,
ihn hinsichtlich der Pflichtaufteilung stets zu übervorteilen suchte,
schien Torben mit der wöchentlichen Predigt gerade im rechten Maße
bestraft zu werden. Aber was half es ihm hier und jetzt, ihm, dem
völlig grundlos durch die Predigt gestraften?
Nicht einmal nach Nette Jakobs konnte Torben seinen Blick schweifen
lassen, ohne daß ihm der Zorn der Eltern gewiß gewesen wäre. Dabei
wußte er ganz genau, daß Nette, wie jeden Sonntag, nur wenige Reihen
hinter ihm saß, in ihrem weißen Rüschenkleid, in ihren weißen Schu-
hen und den weißen Kniestrümpfen, um wie er selbst der ehrfurchtsvollen
Versteinerung preisgegeben zu sein. Sehen durfte Torben nur nach
vorn, zu dem scheinbar unaufhörlich predigenden Pfarrer Rübsam und zu
dem Kreuz, das hoch hinter Rübsam an der Wand hing, schräg ge-
stellt, so daß der leidende Christus jedem Kirchbesucher ins Ge-
sicht zu sehen schien. Losgelöst von jedem Eindruck, der Torbens
Interesse ernsthaft hätte auf sich ziehen können, wanderte sein
Blick Sonntag für Sonntag irgendwann auf das Gesicht des hölzernen
Christus, und es bohrte ihn die Frage, wie Leid und Frieden
zugleich in ein Gesicht geschrieben sein konnten. Wie schrek-
klich mußte es doch sein, an ein Kreuz genagelt zu sein, dabei stets
auf diese kalten Bänke und den kalten Boden zu sehen, niemals das
warme Licht der Sonne zu erblicken und noch weniger zu spüren, dafür
oft den langweiligen und öligen Predigten des Pfarrers Rübsam aus-
gesetzt zu sein. Das Leid des hölzernen Christus meinte Torben wohl
in all seinen Einzelheiten nachempfinden zu können, doch wie konnte es
sein,
daß dieses hölzerne Gesicht zugleich den Eindruck vermittelte, es
hadere nicht mit seinem schlimmen Schicksal, sondern sei mit diesem und
sich im
Frieden? Obwohl Torben diese Kirche haßte, schien es ihm doch, als
sei er irgendwie mit diesem hölzernen Christus verbunden, der sich
wie er in ausgesprochen unbequemer Situation befand, auch wenn er,
anders als Torben, darin seinen Frieden zu finden schien. Während Torben
sich in
diesen Gedanken verfing, schien sich alles außer diesem hölzernen
Christus und ihm selbst aufzulösen, so daß er, wie jeden Sonntag,
gelegentlich einen kleinen Stoß von der Mutter erhalten mußte, um zu
begreifen, daß es Zeit war, gemeinsam mit den anderen Kirchbesuchern
und Pfarrer Rübsam zu beten oder zu singen.
Wie jeden Sonntag ging auch dieser Kirchbesuch zu Ende, auch
wenn mit dem Verlassen der Kirche Torbens Qualen noch längst kein
Ende fanden. Ach, wie freundlich wurde Torbens Vater von allen ge-
grüßt, der Herr Amtsrichter Holten, der zugleich im Kirchenvorstand der
Gemeinde und in unzählig erscheinenden Vereinen vertreten war, so daß
fast jeder meinte, nach der Kirche noch ein paar Worte mit ihm wechseln
zu müssen, von Sonntag zu Sonntag immer wieder darauf hinweisend, wie
stolz der Herr Holten doch auf seine Familie sein könne, wie
sehr Heike sich doch zur vornehmen jungen Dame entwickle und wie gutge -
raten er, Torben, doch sei. Auch wenn es längst zu Torbens ein-
geübten Verhaltensweisen gehörte, zu Komplimenten solcher Art artig-
verlegen zu lächeln, so fragte er sich dabei doch stets, ob der dem
hölzernen Christus ins Gesicht geschriebene Frieden womöglich da-
mit zu tun haben könne, daß jenem solch schwül erbrachte Freundlichkei-
ten erspart blieben.
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Während Torben sich wieder einmal derart den gesellschaftlichen
Pflichten seiner Familie hingab, wanderten seine Augen entlang der
noch vor der Kirche versammelten Kirchgänger, auf der Suche nach
einem weißen Rüschenkleid, weißen Kniestrümpfen und weißen Schuhen.
Denn Eines war heute anders als an den bisherigen Sonntagen: Während er
bisher Nette zwar am Rande wahrgenommen, seine Aufmerksam-
keit aber stets darauf gelenkt hatte, welche Blicke seine Schwester
trafen und welche Blicke diese ihrerseits wohin fallen ließ, hatte er
diesmal ein eigenes Interesse.
Nette war der Gegenstand seines Interesses anläßlich des heuti-
gen Kirchbesuches, nachdem dieses rothaarige und sommersprossige
Mädchen mit der großen Nase und den viel zu kleinen Ohren ihm
nach der letzten Schulhofprügelei unerwarteterweise ein Taschen-
tuch gereicht hatte, damit er sich sein Blut hatte von der Nase wischen
können. Sie hatte dabei kein Wort gesagt,doch der Blick, den sie ihm aus
ihren blauen Augen dabei zugeworfen hatte, schien ihm all die helle
Wärme zu enthalten, die von den Fenstern der Kirche Rübsams zuverlässig
ausgesperrt wurde. Und das, obwohl Torben gegen den gemeinen Jens Wal-
ters nicht gerade gut ausgesehen hatte. Torben war sich seither sicher,
daß Nette etwas hatte, was andere Mädchen nicht hatten.
Nachdem er seine Augen eine Weile hatte schweifen lassen,
sah er direkt in Nettes blaue Augen, während sie artig neben
ihren Eltern stand, die ihrerseits Artigkeiten mit anderen Kirch-
gängern auszutauschen schienen. Wie gern wäre er zu ihr hingegangen,
hätte sie in den Arm genommen und gesagt:"Laß und hier verschwinden,
hier sind wir völlig fehl am Platze." Doch dies hätte nicht nur
zu familiärem Ärger auf beiden Seiten geführt, sondern er spürte in
Nettes blauen Augen auch wieder die Freundlichkeit, die so anders war
als die schwülen Freundlichkeiten, die um ihn herum ausgetauscht wur-
den, so daß er ganz verlegen wurde und errötet zur Seite sah. Wie
gut traf es sich da ausnahmsweise, daß gerade der Rechtsanwalt
Fidelius an der Reihe war, seine Artigkeiten gegenüber Torbens
Vater auszuschütten, und dabei Torben direkt ansprach:"Na Torben,
in Deinem Anzug siehst Du ja schon aus wie ein angehender Rechts-
anwalt, oder möchtest Du lieber Richter hier in Albring werden,
und Deinem Vater in die Fußstapfen treten?" Am liebsten hätte Torben
erwidert, daß er sich lieber an das Holzkreuz in der Kirche nageln
ließe, bevor er Herrn Fidelius oder seinem Vater in die Fußstapfen
folgte, doch um allen Problemen möglichst einfach aus dem Wege zu
gehen, antwortete er:"Ich weiß es noch nicht, Herr Fidelius. Mein
Vater sagt immer, ich solle mich erst einmal in der Schule anstrengen."
- "Gut geratener Junge, Herr Holten! Aus dem wird bestimmt mal was!"
Und weiter ging es, ohne daß Torben gefragt war.
Wieder begann Torbens Blick zu schweifen, nach dem weißen
Rüschenkleid und dem Mädchen mit den roten Haaren, der großen
Nase und den viel zu kleinen Ohren, das so freundlich aus seinen
blauen Augen sah, daß ihm beinahe bange werden konnte. Leider war
sie samt ihrer Familie nun verschwunden, doch dafür erschien nun
Pfarrer Rübsam persönlich bei Familie Holten, so daß das unwider-
rufliche Ende des sonntäglichen Kirchgangrituals offenbar bevor-
stand. Rübsam kannte Torbens Vater Rainer schon von der Schul-
bank und war ein alter Bekannter der Familie.
Nach Torbens Erfahrungen war daher auch davon auszugehen,
daß dieser letzte Abschnitt des Kirchbesuchs von besonderer Schwü-
ligkeit getragen werden dürfte. "Guten Tag, liebe Familie Holten! Ich
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freue mich, Ihr Lieben, daß ich Euch wieder einmal in unserer
Kirche begrüßen durfte. Es ist doch schön zu sehen, daß es vorbildlich
intakte Familien gibt, und Kinder und Jugendliche, die auf-
merksam die Worte Gottes und Christi erhören." - "Lieber Harm-Jens,
Du weißt doch, welch schweres Amt ich zu tragen habe. Woher soll
ich die Kraft dafür nehmen, wenn nicht aus meinem Bekenntnis zu
Gott und Christus? Wie könnte ich für Gerechtigkeit sorgen, wenn
ich nicht voller Ehrfurcht zur höchsten Gerechtigkeit aufblickte?
Wie könnte meine Familie in christlichem Glücke leben,
wenn wir nicht immer wieder das Wort des Herrn suchten?
Deine Predigt heute hat es wieder einmal in ganz besonderer Weise
vermocht, die Botschaft Christi zu verkünden. Dies ist nicht
nur wichtig für Hilde und mich, sondern gerade auch für Heike und Tor-
ben,
die erst dabei sind, erwachsen zu werden, und dabei fester Werte
und klaren Glaubens bedürfen. Wie froh bin ich da, daß auch unsere
Kirche sie dabei an die Hand nimmt. Wenigstens hier bei uns in Albring
ist die Welt noch in Ordnung." Torben wunderte es nicht, daß weder
sein Vater noch Pfarrer Rübsam auf Einzelheiten der Predigt ein-
gingen. Schließlich kannte er seinen Vater, der kaum mehr Aufmerksam-
keit für
die öligen Predigten Rübsams übrig haben konnte, als Torben selbst, so
daß es ihm wohl unmöglich sein mußte, auf Einzelheiten der Predigt
einzugehen. Auch der Umstand, daß sein Vater stets den geringsten Ver-
such unterlassen hatte, nach der Kirche oder zu irgendwelchen
anderen Zeitpunkten auf die Worte des Predigers Rübsam hinzuweisen,
ließ Torben gewiß sein, daß sein Vater von Rübsam leicht der Heuchelei
zu überführen sein mußte.
Es schien, wie so oft, als ob Pfarrer Rübsam solches wußte, erahnte
oder es zumindest instinktiv unterließ, Rainer Holten hinsichtlich der
Predigt auf den Zahn zu klopfen. Torben war darüber recht
froh, da es ihm dadurch ebenfalls erspart blieb, seine Haltung
gegenüber Rübsams Predigten zu offenbaren. Auch Heike, die sogar
schon mehrfach versucht hatte, sich dem familiären Kirchgang zu
entziehen, konnte nach Torbens Überzeugung kein Interesse an einer
Nachlese der Rübsamschen Predigt haben.
Nur Torbens Mutter, sie hätte vielleicht
gern über die Predigt gesprochen. Wenn, dann hielt sie sich und ihr
Wollen aber zurück, wie sie es immer dann tat, wenn sie sich
nicht völlig sicher war, daß sie sich andernfalls keinen Ärger auf-
lud.
So blieb es wie immer
beim Austausch von schwülen Freundlichkeiten, und der sonntägliche
Kirchgang ging für Torben zu Ende.
Kaum war die Kirche außer Sichtweite, so begann der familiäre
Teil des Sonntags für Torben. Während Torbens Vater über die
Woche mit Arbeit, Vereinsleben und diversen anderen Dingen
ausgelastet war, die sich Torbens Einblicken in Teilen entzogen,
er sogar den Samstag häufig für jene Zwecke nutzte, so war es
doch seine eiserne Regel, den Sonntag als Familientag zu ver-
bringen. Torben wußte es nicht, was seinen Vater letztlich
dazu brachte, diesen Familientag unbedingt Sonntag für Sonntag
einzuhalten, wobei es selbstverständlich war, daß die Sonntage
nach seines Vaters Gusto zu verlaufen hatten. Nicht,
daß er sich an diesen Sonntagen stets als unerträglich dar-
gestellt hätte; im Gegenteil, er konnte sehr jovial, unterhaltsam
und in besten Situationen sogar charmant zu seiner eigenen Frau,
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Torbens Mutter, sein. Die Rolle des Gönners schien ihm gelegent-
lich ebenso zu gefallen, wie in anderen Fällen die des auf Demüti-
gung zielenden Tyrannen, und er hatte, das mußte Torben zugeben,
wirklich Talent, jede Rolle echt zu spielen. Hatte Torbens Va-
ter also einen wirklich gönnerhaften Sonntag auf dem Plan, was
sich zum Beispiel darin äußerte, daß er den Rest der Familie schon
Tage zuvor wohlwollend um Gestaltungsvorschläge bat, so blickten Torben,
Schwester und Mutter beruhigt, teilweise gar mit Freuden auf den kommen-
den Sonntag.
So gab es Sonntage,
die wirklich von allen als so ersprießlich angesehen wurden, daß
zumindest für kurze Zeiten gemeinsames Familienglück
von jedem gespürt wurde. Es gab aber auch Sonntage, die unsäglich
verliefen, und dabei auch solche, die heiter begonnen hatten.
Dreie bangten mehr oder weniger, einer entschied, wie die Sonntage
verliefen - es ging eben nach dem Gusto von Rainer Holten.
Für den heutigen Tag war ein Besuch
bei den Großeltern mütterlicherseits angesetzt; Torbens Vater hatte
die Kontakte mit den Großeltern ähnlich eingerichtet, wie seine
Kirchbesuche: Feste Abstände, feste Zeiten, niemals ohne Termin.
Torben, der sich mittlerweile neben seiner Schwester auf dem Rück-
sitz der Familienlimousine befand, fühlte sich bei den Groß-
eltern nicht übermäßig wohl, da er über den Sandkasten im Garten
längst hinausgewachsen war und sich, wie seine Schwester, völlig sicher
war, daß ein auf eigene Faust verbrachter Sonntag wesentlich in-
teressanter sein würde, als das Herumsitzen an Familien-
tafeln. "Na Hilde, wie fühlt man sich, wenn man neben einem Manne
steht, den alle verehren und den jeder kennt?" begann Torbens Vater
das aus seiner Sicht wichtigste Resümée des Kirchbesuchs. Die ihm
nach dem Gottesdienst beigebrachten schwülen Freundlichkeiten
hatte er nicht nur genossen, er beabsichtigte sogar, wie oft nach der
Kirche, sie noch ein wenig im Nachhinein auszuweiden.
"Wir haben ein Haus, sind wohlhabend, alle verehren und achten mich
hier in Albring, und Du darfst all dies genießen, weil ich Dich ge-
heiratet habe, Hilde", schob er nach. Torbens Mutter sagte nichts. Es
war ihr
nicht neu, solches von ihm zu hören. "Aus dem Dorf" habe er sie
"herausgeholt", sie hätte es ohne ihn nie geschafft, in solchen Ver-
hältnissen zu leben; wenn er ganz gemein wurde, be-
gann er gar, in unverschämtester Weise Kritik an dem durch
seinen Terror geschundenen Gesicht seiner Frau auszuüben. Torbens
Mutter hatte es sich längst angewöhnt, auf Demütigungen durch
ihren Mann nicht zu reagieren, um ihn bloß nicht noch weiter zu
treiben und seine Demütigungen nicht so weit zu steigern, bis sie wie-
der weinen mußte. Diese Taktik war aber zweischneidig, denn es konnte
durchaus sein, daß der Vater besonders wütend auf das Ausbleiben
jeder Reaktion reagierte, wenn ihm einmal unbedingt nach Streit war.
Was dem Rainer Holten vermutlich am liebsten gewesen wäre, verweigerte
Hilde
ihm aber unentwegt: Sie sagte ihm niemals, daß sie wirklich in
irgendeiner Weise froh sei, ihn zum Ehemanne zu haben. Während
in der Familienlimousine eine Stille entstanden war, die jeden
auf irgendein Wort eines anderen warten zu lassen schien, meldete sich
Torbens Schwester Heike plötzlich zu Wort:
"Nicht nur Mutter darf Dich genießen, wir dürfen Dich auch genießen,
Vater. Würde es Dich glücklich machen, wenn wir Dir nun sagten,
daß wir heilfroh seien, gerade Dich zum Vater zu haben ?",
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bemerkte sie, die es offenbar im Sinn hatte, der
Mutter Entlastung zu stellen, indem sie sich selbst nach vorn warf.
Torbens Spannung war geweckt, Heike war, anders als die Mutter,
durchaus nicht geneigt, zu allem Ja und Amen zu sagen. Gerade in der
letzten Zeit hatte sie begonnen, verbalen Widerstand gegen die
Selbstherrlichkeit und Tyrannei des Vaters zu bieten. Der Vater
nahm den Handschuh willig auf:
"Gerade Du, mein liebes Kind, weißt es natürlich ganz
besonders zu schätzen, daß Du Klavierunterricht nehmen darfst,
daß ich Dir deine Reitstunden bezahle und Dich nicht, wie
Tausende deutscher Väter es mit ihren Kindern tun,
sexuell mißbrauche." Weder Heike noch Torben waren je sexuellem
Mißbrauch oder auch nur solchartiger Belästigung durch den Vater
ausgesetzt gewesen, beide waren sich auch darin sicher, daß es nie so-
weit kommen würde. Torben führte diese Sicherheit allerdings
vor allem darauf zurück, daß sein Vater offenbar keinen
Hang zum Sex mit seinen Kindern zu haben schien. Auch Heike
wußte jedenfalls, daß der rohe Hinweis nicht als Drohung, son-
dern als Ausdruck zynischer Einstufung der Tochterrolle von ganz
weit oben herab zu verstehen war,
darauf zielend, sie demütigend abzuschmettern oder aber sie noch zu
provozieren, um sie dann nach einigen Stufen der Eskalation nur
umso unbarmherziger abzufertigen. "Für den Klavierunterricht be-
danke ich mich ganz besonders herzlich. Im Übrigen bin ich Dir
doch dankbar genug. Würdest Du mich nämlich sexuell bedrängen, dann
würde ich Dir zwischen die Beine treten und Dich anzeigen." Damit setzte
Heike zum Erstaunen Torbens neue Maßstäbe. Auch wenn diese Drohung
mangels möglich scheinender sexueller Übergriffe nur hypothetisch war -
so etwas hatte sie dem Vater noch nie gesagt. Sie war der verbalen
Eskalation des Vaters offenbar bewußt gefolgt, es schien, als hätten
sowohl Vater als auch Tochter die Absicht, diesmal einer Klärung
der Rollen näherzukommen.
Heike setzte noch eines darauf:"Daß Herr Fidelius und Konsorten so
um Dich herumscharwenzeln, liegt nur daran, daß Du im Falle eines
Falles das tust, was sie wollen. Sie machen nicht Dir den Hof, sondern
einem angeblich unabhängigen Amtsrichter, der ihnen gefällig ist. Hinter
Deinem Rücken werden sie Dich wohl auslachen, während Du Dich in ihren
verlogenen Schmei-
cheleien vor uns sonnst." Heike sprach ihrem Bruder Torben
aus dem Herzen, zu offensichtlich mußte sie recht haben. Torben war
nun gespannt, wie sein Vater reagieren werde, derart hart auf
den ganz einfachen Punkt angestoßen, daß er im Grunde ein Nichts sei,
nur aus einer äußerst fragwürdigen Ausnutzung seiner Position heraus
in der Lage seiend, seinen eitlen Illusionen Nahrung zu geben. Das war
nicht Rebellion, das war ein Umsturzversuch - die Schwester schien einen
Entwicklungssprung gemacht zu haben, von dem Torben bisher nichts
gewußt hatte und der offenbar auch von dem Vater nicht einkalkuliert
war. Einen kurzen Moment schien der Vater zu schwanken; auch wenn er
grundsätzlich bereit war, Kritik einfach unsachlich abzutun, so
war hier darauf gezielt worden, ihn insgesamt in Frage zu stellen.
Dem Rainer Holten war vernichtende Kritik von seinem eigenen Fleisch
und Blut
geboten worden. Torbens Vater wurde knallrot und begann heftig zu
toben:"Welche Natter habe ich an meinem Busen genährt! Wenn mir
das jemand anderes
sagen würde, den würde ich fertigmachen, daß er hier in Albring
für immer erledigt wäre. Wenn es Dir bei uns nicht gefallen
sollte, wäre es vielleicht das Beste, ich schickte Dich auf ein Inter-
nat, möglichst weit weg von Albring, am besten nach Amerika."
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Torbens Vater war außer sich."Hilde, sage mir, wie kommt unsere Toch-
ter zu solchen Unver-
schämtheiten? Hetzt Du sie etwa gegen mich auf, oder hat sie
die falschen Freunde?" Torbens Mutter war bereits sehr ängst-
lich und unruhig geworden. "Ich weiß es nicht Rainer, aber na-
türlich fordere ich von ihr stets, daß sie Dir mit Achtung gegen-
übertrete. - Heike, wie konntest Du das sagen! Entschuldige Dich
gefälligst bei ihm!" Die von der Mutter halb herausgeschluchzten,
halb herausgequälten Worte schienen weder Torbens Vater noch
seine Schwester zu interessieren, wohl, weil beide wußten, daß es
auf sie nicht ankam. Auch Hilde Holten wußte sicherlich, daß es auf
ihre Worte nicht ankam.
Rainer Holten wandte sich wieder an Torbens Schwester:
"Heraus damit, wie kommst Du dazu, mir solche aus der Luft ge-
griffenen Unverschämtheiten an den Kopf zu werfen?" Torben war
von Spannung ergriffen; wenn es Heike nicht gelänge, nun
Punkte zu machen, so würde der Vater sie in die Mangel nehmen.
Er hielt seiner Schwester beide Daumen, aber zog es vor,
nach außen hin jeden Eindruck von Parteilichkeit bei dieser Aus-
einandersetzung zu vermeiden. Heike:"Du sagst es doch selbst, daß
Fidelius und die anderen Anwälte ohne Dich einpacken müßten, daß
sie alle das Meiste Dir zu verdanken haben. Wie kann es denn
kommen, daß die Anwälte in Albring Dir mehr zu verdanken haben als
sich selbst? Und wem haben sie es zu verdanken - dem Rainer Holten
oder dem Richter Holten?" Donnerwetter, dachte Torben, dem
seine Schwester nun richtig sympathisch schien. Es war tatsächlich
Gang und Gäbe, daß der Vater sich im engen Familienkreise
brüstete, wer alles doch wirklich auf ihn angewiesen sei, daß z.B. der
aus seiner Sicht juristisch unfähige Fidelius seinen mit Abstand
lukrativsten Kunden, das reiche Familienunternehmen Westerstett,
schon längst verloren hätte, wenn er, Rainer Holten, nicht wäre,
der sich gelegentlich sogar einsetze, um Richterkollegen auf die
Spur richtiger juristischer Beurteilungen zu führen. Torben wußte
auch, daß solche Darstellungen des Vaters nicht gänzlich an der
Wahrheit vorbeigehen konnten. Schließlich hatte er es in der Öffentlich-
keit bereits aufgeschnappt, daß Familie und Unternehmen Westerstett
in Albring als juristisch unbesiegbar galten. Doch nie zuvor hatte
er den klaren Schluß gezogen und die Rolle des Vaters so sehr auf den
Punkt gedacht - noch weniger hätte er es gewagt, dem Vater solches
zu sagen. Torben fühlte gewaltigen Respekt vor dem Mut der Schwester
und vor der Klarheit ihrer Gedanken, die frei jeder subjektiven
Einschätzung von Ungehörigkeit nur auf belegbare Fakten und die
Gesetze der Logik gerichtet schienen. Nun war er ungeheuer
stolz auf seine Schwester, und wollte es jetzt auch gern
zugeben, daß sie wirklich schon erwachsener war als er. Den Vater
bis zum Siedepunkte aufzukochen, um ihn zur Begründung dieses
Tuns mit seinen eigenen Worten zu konfrontieren, erschien Torben
jedenfalls als genial. Der Vater mußte dies wohl auch so sehen,
denn er raste:"Sei froh, daß wir in wenigen Momenten bei Oma
Grethe und Opa Heinrich sind. Aber wir werden später noch weiter-
sehen, du schäbiges Schandmaul." Er versuchte, seine letzten Worte
besonders drohend klingen zu lassen, denn offensichtlich erkannte
er, daß er hart ausmanövriert worden war. Nicht nur, daß Heike ihn
kühn und intelligent angegangen war - sie hatte auch den denkbar
besten Zeitpunkt abgepaßt, nämlich während der kurzen Auto-
fahrt von der Kirche zu den Großeltern, die sicherlich bereits mit dem
servierbereiten Essen warteten. Dort aber, so schien klar, würde
Rainer Holten diesen ihm unangenehmen Streit nicht fortsetzen wollen.
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Torben fragte sich, ob seine Schwester dies alles kalkuliert hatte
oder ob es sich zufällig so gefügt hatte - vielleicht war sie schon
richtig erwachsen? Neben dem Haßbild des Vaters und der gütigen,
aber viel zu schwachen Mutter, als daß Torben Achtung vor ihr hätte
haben können, schien es ihm nun, als ob er zumindest in gewissen
Dingen ein Vorbild in der Familie habe. Er stieß seine Schwester
unauffällig an und zeigte ihr, für den Vater, der gerade den
Wagen einparkte, nicht zu sehen, das Zeichen Churchill's im Kampf
gegen den Diktator Hitler, die zum V-gespreizten zwei Finger. In
ihren Augen sah er nun, daß die gelungene Attacke sie alle Kraft ge-
kostet haben mußte und sie sich durchaus zu fragen schien, was sie nun
wohl zu erwarten habe. Torben war es pötzlich ganz besonders klar,
weshalb er sich herausgehalten hatte.
Der Empfang durch Großmutter Grethe und Großvater Heinrich, die
Eltern der Mutter Torbens, war nie ungetrübt freudig, denn zumindest
Großmutter Grethe schien wohl zu ahnen, wie das Eheglück ihrer Toch-
ter einzustufen war, spätestens, nachdem jene einen Selbstmord-
versuch wenige Monate nach ihrer Heirat mit Rainer Holten begangen
hatte, was sich in der Familie nicht hatte verheimlichen lassen.
Dieses Mal aber war der Empfang in besonderem Maße gestört,
denn Torbens Mutter hatte Tränen in den Augen und zitterte, was
Torben im Auto nicht hatte wahrnehmen können. Torbens Vater machte
einen wenig freundlichen Eindruck, er schien noch mit sich
zu kämpfen, nur Torbens Schwester wirkte wieder gefaßt.
So schien das Gesicht der Großmutter weniger erfreut als viel-
mehr besorgt, und sie konnte nicht umhin, zu fragen: "Hilde, sag,
was ist passiert?" Wie selbstverständlich übernahm Torbens Vater es
sofort, diese an die Mutter gerichtete Frage auf seine Weise zu
beantworten: "Deine Enkeltochter hat auf Hildes Nerven herum-
getrampelt, liebe Schwiegermutter. Hilde wird durch die
Erziehung Heikes offenbar überfordert, so daß wir
bereits überlegen, ob wir Heike auf ein Internat schicken müssen.
- Heike, von mir möchte ich gar nicht reden, tue aber bitte wenig-
stens Deiner Mutter und Deinen Großeltern den Gefallen, den sonntäg-
lichen Frieden nicht auch noch hier zu brechen, kaum eine halbe
Stunde, nachdem Du das Haus Gottes verlassen hast."
Torbens Vater hatte sich wieder gefangen - mit der Miene des
zurecht anklagenden Vaters und mit kühler Emotionslosigkeit hatte
er den wahren Sachverhalt verschleiert, Heike als die einzig
Schuldige dargestellt und es ihr fast unmöglich gemacht, zu seinen
Unverschämtheiten noch Stellung zu nehmen. Als Gipfel gekonnter
Infamie war es nach Torbens Ansicht zu werten, daß sein Vater
dann noch die Mutter in den Arm nahm und ihr zur Kenntnis-
nahme aller leise zusprach:"Beruhige dich, liebe Hilde, ich werde
es nicht weiter zulassen, daß dieses Kind Dich fertigmacht."
Torben war sich völlig sicher, daß jeder Außenstehende seinem Vater
auf den Leim gegangen wäre, so gut hatte er gespielt. Selbst der Um-
stand, daß Torbens Mutter nun noch zu schluchzen begann, konnte immer-
hin als zur Darstellung des Vaters passend verstanden werden. Heike
war blaß geworden und schien, als wolle sie etwas sagen, könne aber
nicht. Das Maß infamer Lüge, das Rainer Holten hier im engen
Familienkreis gegen seine eigene Tochter aufgeboten hatte, setzte
nach Torbens Meinung neue Maßstäbe und schien seiner Schwester die
Kraft oder den Willen zu nehmen, sich zur Wehr zu setzen. Rainer
Holten hatte seine Welt wiederhergestellt. Dennoch, auch darin war
Torben sich sicher - jeder der Anwesenden wußte, wer hier wen fertig-
machte, ohne daß dies seinen Vater gestört hätte, solange niemand
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seiner Darstellung widersprach.
Der Besuch bei den Großeltern verlief dann ohne besondere Vorkommnisse,
wenn auch kaum ein Wort geredet wurde, außerhalb der von Torbens
Vater geführten Monologe und der von ihm in Gang gesetzten und in Gang
gehaltenen Gespräche. Es war nicht Frieden, es schien aber jeder seine
Gründe zu haben, so zu tun, als ob Frieden sei.
auf dem schulhof
Der beginnenden Schulwoche hatte Torben mit gespannter Erwartung
entgegengesehen, konnte es sich doch nicht vermeiden lassen, daß sei-
ne Wege die von Nette Jakobs kreuzen würden. Nette war im Jahrgang di-
rekt unterhalb Torbens Jahrgang und hatte einen ganz anderen
Schulweg als Torben, doch begegnete man sich zwangsläufig im Bereich
der Schule. So froh er einesteils darüber war, Nette wieder zu begegnen
und ihrer tiefen Ehrlichkeit und Wärme womöglich näher zu kommen,
so fürchtete er sich andererseits auch davor: Wie sollte er gerade
ihr begegnen, die ihm so leuchtend anders erschien, als alles andere
um ihn herum in seinem Leben? So wie er innerlich verächtlich auf
seinen Vater, Fidelius und Rübsam hinabsah, so, wie es ihm völlig
zweifelsfrei schien, daß er jenen moralisch weit überlegen war, so
fragte er sich nun, ob er der von ihm nahezu verherrlichten Nette
wirklich in die Augen sehen konnte, oder ob er nicht soweit
von der Reinheit ihres Wesens entfernt sei, daß er schamgebeugt sein
Haupt senken müßte, stünde sie vor ihm. Dann waren da noch die Klas-
senkameraden, die es wohl auf seine Kosten ausweiden würden, be-
kämen sie Ruch von Torbens plötzlich entstandener Vorliebe für ein
Mädchen, das unter den Jungen nicht gerade im Rufe stand, etwas Beson-
deres zu sein.
Hin- und hergerissen von solchen Gedanken, brach der Schulalltag
am Geschwister-Scholl-Gymnasium unweigerlich über ihn herein.
Was ihm bislang nie aufgefallen war,
bemerkte er noch vor der ersten Stunde: daß Nette montags offenbar
erst zur zweiten Stunde Unterricht hatte; jedenfalls sah er weder
sie noch jemand anderen aus ihrer Klasse. Er war sich selbst nicht
sicher, ob er darüber nun froh oder unfroh sein solle, aber ir-
gendwie fühlte er sich erleichtert, der Begegnung mit Nette erst
einmal entgangen zu sein.
So war es zunächst ein Schultag wie jeder andere für Torben, wobei
er es gewohnt war, den Lehrstoff jeweils ohne Mühe und Beschwerlich-
keiten aufzunehmen und, sofern er wollte, schriftlich wie mündlich
zu glänzen. Für viele Fächer bestand auf seiner Seite sehr ernst-
haftes Interesse, das nur gelegentlich gestört wurde, wenn ein
Lehrer nach Torbens Auffassung nervte. Und was ihn alles nerven
konnte: Herr Bölkow erschien stets unvorbereitet und füllte
zeitliche Lücken seiner Lehrimprovisationen mit abschweifenden
Erzählungen, hatte auch schon einmal eine komplette Klassenarbeit
"verloren", Frau Schmaling war Verfechterin höchster Penibilität,
wenn es etwa um die Ordnung von Heften bis hin zur Beschriftung
der Löschblätter ging, andererseits gelang es ihr nie, auch nur eine
Unterrichtsstunde ohne hysterischen Anfall zu absolvieren, und der
desolate Zustand ihres Gebisses ließ erahnen, daß sie es mit der
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Körperpflege längst nicht so genau nahm wie mit der Beschriftung
von Löschblättern. Dann gab es aber auch Lehrer wie Herrn Fischer,
die nicht nur den Stoff gut vortrugen, sondern es auch vermochten, sich
gleichermaßen Respekt wie auch Sympathie der Schüler zu verschaffen,
oder die Frau Behrends, für die die Jungen der Klasse zudem derart
schwärmten, daß sie deren Unterricht vor allem an heißen Sommertagen
stets gern entgegensahen. Wie an jeder anderen
Schule gab es auch hier gute Lehrer - doch selbst die konnten Torben
nerven, nämlich indem sie ihn lobten und ihn so in einer Art und Weise
in den Mittelpunkt des Interesses rückten, die ihm durchaus nicht
angenehm war. Er hatte schon ernsthaft in Erwägung gezogen, zwischen-
durch einmal absichtlich eine "Drei" oder "Vier" zu schreiben, um
Tendenzen in der Klasse, ihn zum Streber zu stempeln, entgegenzu-
wirken. Andererseits hielten sich solche Tendenzen aber auch in ihm
noch erträglich scheinenden Grenzen, da er Mitschüler abschreiben
ließ, ihnen gar Mogelzettel reichte und er zudem nie von seinen Noten
Aufhebens machte. Auch mied er es, sich bei Lehrern anzubiedern, eben-
so vermied er es aber auch, sich bei ihnen unbeliebt zu machen.
Am besten gefiel er sich in der Rolle des unbeachteten Betrach-
ters, wenn er aber in den Mittelpunkt besonderen Interesses rückte
oder dorthin gerückt wurde, so wurde ihm das fast so schwer wie der
Blick in die blauen Augen Nettes.
Nun saß Torben in der Geschichtsstunde bei Herrn Fischer, der gerade
die Hintergründe der protestantischen Reformation in Deutschland
vortrug. Die Verquickung und Vermischung des kirchlichen mit dem welt-
lichen Adel, Herr Fischer vermied es stets, von der "Geistlichkeit"
zu sprechen, Luxushang und Dekadenz statt gelebter Christlichkeit sei-
en die damaligen Markenzeichen des deutschen Katholizismus gewesen, und
zwar derart überdeutlich, daß alle Stände laut Klage erhoben und
letztlich sogar Teile der kirchlichen wie der weltlichen Macht es
als notwendig erkannt hätten, den Mißständen entgegenzutreten.
Veranlaßt durch den päpstlichen Ablaß, der Freikauf von Sünde zur
Finanzierung der Peterskirche angeboten habe, sei Luther dann kritisch
in die Öffentlichkeit gegangen. Herr Fischer sprach ausführlich über
die Kritik Luthers an dem maroden System der Kirche, und er ging,
obwohl er seine eigene Religiösität den Schülern gegenüber stets im
Unklaren belassen hatte, sehr intensiv darauf ein, welche Vorwürfe Lu-
ther gegenüber der Kirche erhoben hatte. Torben kannte Herrn Fischer,
der geschichtliche Fakten in interessanter Form darbot, der dann aber
stets dazu überging, Ansichten und Interpretationen der Schüler zu
erfragen, um dann mit ihnen gemeinsam die wesentlichen Punkte heraus-
zuarbeiten, so daß er sich bereits inhaltlich mit der Kritik Luthers
befaßte. Torben war heute besonders gewillt zu glänzen, da er durch
einen neuzugezogenen Mitschüler starke Konkurrenz in allen Fächern
bekommen hatte. Dem Neuen mußte, so meinte jedenfalls Torben, ein-
mal gezeigt werden, wie die Verhältnisse lägen.
Kaum hatte Herr Fischer die erwartungsgemäße Frage gestellt, was
denn von der Kritik Luthers und seinen Forderungen zu halten sei,
schnellte Torbens Hand zur Meldung in die Luft. Nur eine andere
Hand war genauso schnell oben gewesen wie die Torbens - die von Dennis
Schulze, dem Neuen. Herr Fischer schien auch die exakte Gleichzeitig-
keit der Meldungen erkannt zu haben, denn er schwankte mit seinem
Blick irritiert zwischen beiden hin und her, wohl überlegend, wem er
den Vorrang geben solle. Irritationen waren bei Herrn Fischer aller-
dings stets nur von kurzer Dauer, weil bei ihm sehr schnell
Erkennen und zielgerichtetes Umsetzen der Erkenntnisse zu folgen
pflegten. Zudem hatte er, ohne wirklich unfair zu werden, den Hang,
- 11 -
Schüler zu frotzeln und Dinge zynisch ironisierend auf den Punkt zu
zu bringen.
All dies mag hier zusammengestoßen sein, als Herr Fischer sagte:
"Ich weiß es wirklich nicht, wem von Euch beiden ich den Vorrang ge-
währen soll: Dem evangelisch-lutherischen Kirchgänger Torben oder dem
vom Religionsunterricht befreiten Dennis. Torben, ich nehme an, als
praktizierender Lutheraner wirst Du Dich schon intensiv mit Luthers
Thesen befaßt haben. Vielleicht solltest deshalb Du beginnen."
Nun war Torben irritiert. Weshalb war er Herrn Fischer, der nicht im
Orte wohnte, als Kirchgänger bekannt? Und wurde nun etwa von ihm
erwartet, daß er tiefgründigere Kenntnisse über Luthers Vorstellungen
hatte, als er sie aus dem Vortrag des Herrn Fischer hatte gewinnen
können? Mußte er als Kirchgänger und als Sohn des Gemeindekirchen-
vorstands bestimmte Dinge wissen und womöglich bestimmte Ansichten zu
Luther und seinem Wirken vertreten? An Rübsams Kirche hatte Torben
gewiß nicht gedacht, als er sich zu Worte meldete, und nun sollte
er hier den wissenden und überzeugten Lutheraner abgeben? Es schien
ihm nun jedes Wort auf's Glatteis zu führen. Torben beschloß, dieses
Mal nicht glänzen zu wollen, sondern, wie sein Vater es gelegentlich
ausdrückte, auch ohne Wissen zu reden, vor allem aber, ohne etwas zu
sagen:
"Luther wandte sich gegen die Geschäftemacherei der Kirche und wollte
die Kirche wieder auf einen christlichen Weg bringen."
"Richtig, Torben, der Ablaßbrief des Papstes und dessen Vermarktung
durch Tetzel waren Anlaß für Luther gewesen, die 95 Thesen aufzu-
stellen und zu veröffentlichen. Wenn du dann noch sagst, Luther
habe die Kirche wieder auf einen christlichen Weg bringen wollen -
inwiefern war die Kirche denn vom christlichen Weg abgeraten, was
sollte sich ändern nach Luthers Meinung, war es nur die Geschäfte-
macherei der Kirche?"
"Nein, Luther war auch gegen den Zölibat." Das hatte Torben sogar
schon vor dieser Stunde gewußt, schließlich war Pfarrer Rübsam ja
verheiratet. Aber was noch? Was
war überhaupt christlich? Die linke Wange hinzuhalten, wenn man
bereits einen Schlag auf die rechte erhalten hatte? Das konnte
Luther wohl doch nicht gemeint haben? Zum Glücke schien Herr Fi-
scher sich aber mit Torbens Antwort endlich zufrieden zu geben:
"Richtig, Torben, und was meinst Du, Dennis?"
"Die damalige katholische Kirche bestimmte Moral und Glauben und
nutzte dies schamlos aus: Sie mordete, folterte, beutete das Volk
aus und verdiente an allen Arten krimineller Geschäfte, die es damals
gab. Sie hatte sich längst ein eigenes Christentum geschaffen, das
mit den ursprünglichen christlichen Imperativen Liebe, Güte und
Barmherzigkeit nichts mehr gemein hatte, sie beanspruchte göttliche
Unfehlbarkeit und das nach christlicher Auffassung göttliche Recht
zur Vergebung von Sünden für sich. Luther wandte sich ausschließlich
gegen die Absolutheitsansprüche der Kirche, wozu auch das Geschäft mit
dem Seelenheil zählte, und gegen Regularien und Dogmen, die ihm in
seiner Laufbahn als Priester zuwider waren, wie etwa den Zölibat,
die aus den Absolutheitsansprüchen der Kirche heraus überhaupt erst
geschaffen worden waren. Andere gravierende Mißstände, etwa die
Haltung der Kirche zu dem extremen sozialen Elend der
damaligen Zeit als Folge ungenierter Ausbeutung des weit größten
Teils des Volkes, waren Luther offenbar nicht als wichtig erschienen,
denn Themen wie Leibeigenschaft und Elend der Bauern wurden zwar
- 12 -
von Luthers Zeitgenossen, wie Thomas Müntzer, als christliche Themen
vehement behandelt, nicht aber von Luther, der es eindeutig ver-
mied, sich neben der römischen Kirche auch noch die höheren Stände
des Reiches zu Gegnern zu machen. Nur dadurch, daß er die frühkommu-
nistischen Elemente des neutestamentarischen Christentums völlig
außer Acht ließ, konnte Luther die Unterstützung deutscher Fürsten
erhalten. Die Reformation gründete daher von Beginn an auf einer
Kooperation zwischen Kirche und Staat, die mit dem Verrat an erheb-
lichen Teilen christlichen Gedankenguts von Luther erkauft wurde,
damit aber war sie in ihrer Substanz politischer, nicht christ-
licher Natur."
Herr Fischer war offenbar erstaunt, und auch Torben staunte. Diese
Worte, diese Wörter, diese Sätze - was mußte in diesem zwölfjährigen
Dennis stecken, der hier aus dem Stegreif so ausführte und for-
mulierte, daß es wie selbstverständlich richtig auch für den klingen
mochte, der es gar nicht verstanden hatte. Torben hätte es zwar nicht
vermocht, sich selbst so auszudrücken, aber er hatte verstanden,
was Dennis gesagt hatte. Dieser Luther sei kein zweiter Christus
gewesen, sondern habe nur mit dem aufgeräumt, was ihm persönlich
und einem Teil der deutschen Fürsten zuwider gewesen sei, und das
vor dem Hintergrund einer bis in die tiefsten Abgründe verkommenen
Kirche, die nichts besser gewesen sei als die Mafia in ihren schlimm-
sten Zeiten. Gab es Pfarrer Rübsam samt seiner Kirche womöglich nur,
weil einem Teil der deutschen Fürsten die römische Kirche zu mächtig
geworden war und sie einen Priester fanden,
der heiraten, sinnenfroh leben und die Umstände seines
Priesteramtes auch ansonsten gern selbst bestimmen wollte? Mußte er,
Torben, deshalb fast 500 Jahre später jeden Sonntag in Rübsams Kir-
che sitzen?
Herr Fischer mußte selbstverständlich verstanden haben, das war Torben
klar. In dessen Gesicht nahm er neben offensichtlicher Bewunderung
für den Vortrag auch wahr, daß Herr Fischer zu zweifeln schien, wie
er diesen Beitrag zu behandeln hatte, bis jener dann nachharkte:
"Du meinst, daß die Reformation politisch, nicht religiös bestimmt
gewesen sei, Dennis. Kannst Du das noch näher erläutern?"
"Christus lehrte, daß es nur eine wahre Autorität gebe, nämlich
Gott, und daß Gottes Gefallen nur durch Glauben und Taten zu errei-
chen sei. Die katholische Kirche hatte in ihrer Auslegung die
Rolle Gottes übernommen, daß eben sie praktisch die einzige
Autorität sei und man ihr glauben und durch Taten gefallen müsse,
was jedenfalls unchristlich war, so daß Luther sich aus christlicher
Sicht zurecht dagegen wandte. Er allerdings postulierte, daß man
Gottes Gnade nur durch den Glauben finde, nicht aber durch Taten.
Luther tat damit im Grunde nichts anderes, als den Ablaß, den
Tetzel gegen Geld ausstellte, allen Anhängern seiner Lehre und sich
selbst zum Geschenk zu machen; er verband in bequemster Weise die Mög-
lichkeit sündigen Lebens mit dem Angebot, in den Genuß der Seligkeit
vor Gott zu gelangen. Dies tat Luther aber sicher nicht im Hinblick auf
die Lehren des Neuen Testamentes, die sehr eindrücklich an soziale
Verantwortung und die Gewissenhaftigkeit des Handelns generell
appellieren, sondern wohl im Hinblick darauf, daß ein gesellschaftlich
und ihm selbst bequemer Weg des Christentums gegangen werde, der poli-
tisch maßgeblichen Kreisen genehm und damit durchsetzbar werde. Nach
christlicher Auffassung aber ist die Suche nach Gott nicht unter den
Aspekten von Bequemlichkeit, Beliebigkeit und Opportunismus zu
betreiben, sondern unter den Aspekten der Liebe, der Güte und der
- 13 -
Barmherzigkeit, wenn es sein muß, unter Inkaufnahme jedes denkbaren
Leides und Verzichtes. Unter Würdigung dieser Tatsachen aber kann
die Reformation Luthers zumindest aus Christensicht nicht als christ-
lich verstanden werden. Weiterhin ist es jedenfalls Tatsache, daß
die römische Kirche Deutschland materiell ausbeutete, Machtpolitik
betrieb und auch den deutschen Fürsten abverlangte, nach ihren
Regeln zu leben. Sie mußte den deutschen Fürsten daher wie eine Be-
satzungsmacht im eigenen Lande erscheinen, deren Entmachtung gleichsam
Wohlstand und Macht der Fürsten verbessern mußte. Luther wiederum
hatte in Lebensgefahr die Hilfe der Jungfrau Maria erfleht und vor
Gott geschworen, daß er im Falle des Überstehens der Gefahr Priester
werden wolle. Die Aussicht, zwischen einem Leben im
Zölibat und dem Bruch eines Schwures vor Gottes, nach damaliger
Vorstellung dem Verlust der Seligkeit gleichkommend, wählen zu
müssen, hatte Luther in schwere Krisen gestürzt, denn Luther war,
eigenen Bekenntnissen folgend, durchaus allen Leibesfreuden sehr zu-
getan. Je mehr man diesen Zwiespalt Luthers zu Ende denkt, desto
klarer wird es, daß das reale Problem dieses Zwiespaltes der Abso-
lutheitsanspruch der Kirche und insbesondere das darauf aufbauende
strikte Gebot des Zölibats war. Luther konnte sich aus seiner Sicht
nur zwischen Hölle, freudlosem Leben und Reformation entscheiden.
Für die Reformation aber brauchte er die deutschen Fürsten, denen
er daher keine christliche Kritik und schon gar nicht christliche
Forderungen zumuten konnte. Damit war es nicht Luther, der den In-
halt der Reformation bestimmte, sondern die Fürsten, denen man
aufgrund ihres Umganges mit ihrer Macht lediglich politische,
nicht aber substantiell christliche Ziele unterstellen kann."
Torben sah Herrn Fischer an, der einerseits immer mehr zu staunen
schien, dem andererseits aber auch klar sein mußte, daß die
Evangelische Kirche Deutschlands unter Berufung auf die Lehre
Christi in seiner Geschichtsstunde soeben als Mißgeburt erklärt worden
war, von Beginn an untauglich zur Wahrung der Lehre Christi, von
Beginn an darauf ausgerichtet, den Kompromiß mit der Macht zur Ver-
breitung und Erhaltung ihrer selbst um jeden Preis zu suchen. Offen-
sichtlich wußte Herr Fischer nicht so recht, wie er mit diesen Vorträgen
umzugehen hatte, jedenfalls interessierte es ihn aber wohl, wie dieser
Dennis Schulze zu seinen Ansichten gelangt war: "Du vertrittst eine
sehr kritische Meinung zu Luther und zu seiner Reformation, Du zeigst
aber auch, daß Du Dich bereits intensiv mit diesen Dingen befaßt hast.
An dieser Schule bist Du neu, am Religionsunterricht nimmst Du nicht
teil, darf ich fragen, woher Du so gut Bescheid weißt und wie es
kommt, daß Du Dich so sehr damit befaßt hast?"
"Ich lese sehr viel und bin ein Anhänger Christi. Es ist meine Ent-
scheidung, daß ich nicht Mitglied einer Kirche bin und nicht am
Religionsunterricht teilnehme." Torben war baff. Dennis hatte nicht
nur zu erkennen gegeben, daß er um Klassen besser war als Torben
und der Rest seiner Jahrgangsstufe, so sehr, daß er in Anbetracht
seines Alters wohl als genial erscheinen mußte, sondern Dennis be-
stimmte selbst, ob er überhaupt Mitglied einer Kirche war oder nicht!
Und er war es nicht - obwohl oder gerade weil er Anhänger Christi war.
Welche Welten lagen doch zwischen diesem Dennis und ihm selbst, der
er in der Kirche war, ohne genau zu wissen, wofür jene gut war, und
der er sie jeden Sonntag bis auf das Äußerste gelangweilt erdulden
mußte. Nein, dies war kein Gegner für Torben, Dennis bildete eindeutig
eine Sonderklasse für sich allein.
Der Rest der Klasse war längst andächtig still geworden, Herr Fi-
scher war von Dennis Selbstbekenntnis sichtlich über sein bis dahin
- 14 -
bereits erworbenes Maß an Staunen hinausgetrieben worden und ließ
wieder vor der Klasse den Eindruck entstehen, daß er nicht wisse,
wie er mit einer Situation umzugehen habe. Wollte,
konnte oder durfte der ansonsten absolut souverän wirkende Herr
Fischer diesem zwölfjährigen Dennis nicht einfach sagen, daß er
richtig oder falsch geurteilt habe? Herr Fischer vermied jedenfalls
jede eindeutige Wertung:
"Ich finde es äußerst beeindruckend, wie Du Dich mit maßgeblichen
Hintergründen unserer abendländischen Kultur auseinandersetzt und
in welcher Weise du dies erklärst. Sofern Du die Kirche kritisierst,
möchte ich darauf verzichten, mich in die Belange des Religions-
unterrichtes einzumischen. Ich würde es aber sehr gern mit-
erleben, wenn Du Dich mit Frau Sprengmann darüber austauschen würdest,
die bei uns evangelische Religionslehre erteilt. Hattest Du nie Re-
ligionsunterricht?" Dennis errötete, als er nicht mehr ganz so
selbstbewußt wie zuvor wirkend antwortete, er habe bereits einmal
an einem Religionsunterricht teilgenommen.
Torben konnte es sich sehr gut vorstellen, daß jener Religions-
unterricht nicht das Wohlbefinden des zuständigen Lehrers geför-
dert haben konnte. Er war sich sicher, daß Dennis' Vorgeschichte
und Person Herrn Fischer nun auf das Höchste interessierten,
auch wenn Herr Fischer den Takt zeigte, nicht weiter zu bohren.
Dafür kam Herr Fischer auf den dem Torben unangenehmen Gedanken, ihn
als Sprecher der EKD in Anspruch zu nehmen:"Torben, ich bin hier zu
religiöser Zurückhaltung verpflichtet, möchtest Du vielleicht aus
lutherischer Sicht Stellung nehmen zu den Ausführungen des Dennis?"
Nun war Torben genau dort, wo er überhaupt nicht hingewollt hatte,
diese Frage des Herrn Fischer schien ihm geradezu infam zu sein -
geeignet, jede Wissenslücke, jeden zu Lasten des Glaubens eingegangenen
Kompromiß und jede Unzulänglichkeit seiner Logik in diesen
Dingen zu offenbaren. Zudem gedachte Torben im Traume nicht daran,
als Verteidiger der Kirche Rübsams aufzutreten, wo
sich doch die historische Ansicht des Dennis Schulze keineswegs in
erkennbarem Widerspruch zu Torbens aktueller Einschätzung dieser
Kirche befand. Nur, war es klug, an dieser Stelle zu sagen, daß Dennis
durchaus Recht haben könne, so wie die Kirche sich für ihn, Torben,
darstelle? Sollte er womöglich noch ergänzen, daß sein Vater und
Rübsam zwei lebendige Beispiele dafür seien, daß Staat und Kirche
gemeinsame Sache machten und daß das religiöse Drumherum nur reine
Schau zu sein scheine? Torben machte wieder vom Repertoire seines
Vaters Gebrauch, er redete wieder, ohne zu sagen: "Jeder Christ hat
seine eigene Auffassung, und nicht alle, die in einer Kirche sind, müs-
sen das selbe meinen."
"Nun gut", gab Herr Fischer sich endlich zufrieden, "wollen wir die-
sen kleinen religiösen Exkurs als beendet betrachten, und uns auf die
geschichtlich wichtigen Fakten stützen." Herr Fischer erläuterte die
Teilentmachtung der römischen Kirche in Deutschland und als
deren Folge die Entwicklung von Gebieten mit unterschiedlichen Konfes-
sionen, nach dem historischen Motto:"Cuius regio, eius religio" -
Wessen die Herrschaft, dessen Religion. Als er das historische Motto
samt Übersetzung an die Tafel schrieb, drehte er sich kurz zur
Klasse um, und es schien Torben, als werfe Herr Fischer Dennis ein
vielsagendes Lächeln zu.
Torben vermied es im weiteren Verlauf der Geschichtsstunde, sich
nochmals zu Worte zu melden. Selbst Nette Jakobs hatte er völlig
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vergessen, so sehr war er durch die Beiträge des Dennis und seine
eigene unglückliche Rolle als unwissender lutherischer Kirchgänger
abgelenkt worden. Auch jetzt dachte er nicht an Nette, sondern ver-
suchte, die Meinung des Dennis zu ergründen. Hätte Luther geredet wie
Dennis, da war sich Torben sicher, so wäre ihm nicht die Unter-
stützung deutscher Fürsten, sondern die Liquidation durch die
römische Kirche oder durch die deutschen Fürsten gewiß gewesen.
Was war denn das Schicksal Christi gewesen? Gemordet von einer
Allianz der römischen Besatzer und der jüdischen Oberschicht -
wären römische Kirche und deutsche Oberschicht im 16. Jahrhundert
mit einem wie Christus etwa anders verfahren? Mit einem, der ihnen
jede einzelne ihrer vielen Sünden stets vor Augen gehalten hätte, der
sie der unentwegten Lüge und Gottlosigkeit beschuldigt hätte, wie
Jesus es mit den Pharisäern getan hatte? Mit einem, der sie vor
die Wahl gestellt hätte - Reichtum oder Gott? Die selben Leute,
die sich damals die Hände wundbeteten und vor jedem Kreuz auf die
Knie fielen - sie hätten Christus umgebracht, wäre er ihnen leben-
dig begegnet. Wie aber konnte man jemanden preisen und verehren,
den man lieber gemordet hätte, als ihn lebendig zu ertragen?
Torbens Gedanken stießen an die Grenzen real existierender Absurdi-
tät, die offensichtlich nicht nur in der Vergangenheit real war.
Die Worte seines Vaters vom Vortage zur Schwester fielen ihm ein:
"Hätte mir das jemand anders gesagt, den würde ich fertigmachen,
daß er hier in Albring für immer erledigt wäre." Was hätte Christus
wohl dem Kirchgänger Rainer Holten gesagt? Bestimmt mehr als genug,
um dessen Bekämpfungswut zu entfachen. War der Friede im Gesicht des
gekreuzigten Christus womöglich damit zu erklären, daß dieser Mann
zweifellos höchster Ideale seinen Frieden nur im Tode finden konnte,
mit Augen, die sich zur Welt hin geschlossen hatten?
Die folgende Mathestunde verlief ausnahmsweise ohne aktive Beteili-
gung Torbens, der sich immer tiefer in seinen Gedanken verfing und
es daher nur am Rande mitbekam, daß Dennis Schulze sich ebenfalls
nicht beteiligte - er schien in einem Buche zu lesen. Erst als es
zur großen Pause schellte, wurde Torben aus seinen Gedanken heraus-
gerissen.
Auf dem Schulhof wollte Torben heute allein bleiben. War ihm die
Kirche bisher nur als langweilig und nicht ernstzunehmend er-
schienen, so hatte die heutige Geschichtsstunde ihn eines Besseren
belehrt. Die Worte des Dennis sprachen zwar ebenso wie Torbens eigene
Anschauungen dafür, daß es in dieser Kirche nicht darum gehen konnte,
den Idealen Christi zum Durchbruche zu verhelfen, aber woran lag es
dann, daß seit der Gründung der römischen Kirche alle Mächtigen stets
den Schulterschluß mit der Kirche suchten, welche Macht hatte die
Kirche, die sie den weltlichen Mächtigen so unentbehrlich zu machen
schien? Weshalb hatten die Luther-freundlichen Fürsten nicht ein-
fach die katholische Kirche verjagt, weshalb mußten sie sofort eine
andere Kirche haben? Und, was Torben ganz besonders interessierte,
was war der Grund dafür, daß sein Vater den engen Schulterschluß
mit dieser Kirche pflegte? Wie gern hätte er mit Dennis über diese
Dinge gesprochen, doch fürchtete er, dieser kluge Junge könne
dann mehr erfahren, als es Torben letztlich lieb sein konnte. Auch
wenn sein Vater ein verlogenes Scheusal war - hatte Torben das Recht,
diesen Umstand in die Welt hinauszutragen? Was würde er letztlich
lostreten? Es schauderte ihm bei dem Gedanken, daß er Dinge herauf-
beschwören könnte, die ihm gar nicht abschätzbar schienen.
Während Torben langsam über den Schulhof schritt, sah er plötzlich Net-
- 16 -
te, die sich mit zwei Freundinnen unterhielt, ihn aber offenbar noch
nicht bemerkt hatte. Torben war froh, von Nette noch nicht bemerkt
worden zu sein, denn so schwer es ihm bereits gefallen wäre, auf
sie allein zuzugehen, so war aus seiner Sicht nicht im Geringsten
daran zu denken, dies zu tun, während sie in Gesellschaft zweier
weiterer Mädchen war. Um jeder unerwünschten Situation sicher zu ent-
gehen, änderte Torben daher die Richtung und entfernte sich von
Nette. So nah sie ihm gewesen zu sein schien, als sie ihm in die Augen
sah und ihm das Taschentuch reichte, so weit weg schien sie ihm nun
zu sein, zumindest erst einmal unerreichbar.
Als Torben unentschlossen und unbefriedigt weiterging, sah er
plötzlich Dennis, der an der Schulhofmauer lehnte und in einem
Buche las. Torben hatte sich nie für Bücher interessiert, er hatte
stets nur das gelesen, was er lesen mußte. Aber heute war ihm klar-
geworden, daß es möglich war, aus Büchern Dinge zu erfahren, die
wichtig waren. Vielleicht war es gar möglich, in Büchern Antworten
auch auf solche Fragen zu finden, die Herr Fischer wegen seiner
religiösen Neutralität nicht beantwortete, auf Fragen, die man sei-
nem Vater, dem Pfarrer Rübsam und der Religionslehrerin Sprengmann
gar nicht zu stellen gewagt hätte? Torben näherte sich nun Dennis,
dem er es zutraute, ihm die Schlüssel zu ihm bisher verschlossenen
Türen der Erkenntnis liefern zu können.
"Hallo Dennis" , begann Torben,"Deine Ausführungen in der Geschichts-
stunde waren so gut, daß ich nichts hätte erwidern können. Herr
Fischer war offenbar ganz aus dem Häuschen, auch wenn er es nicht
sehr deutlich zeigte." "Ich habe es bemerkt", antwor-
tete Dennis knapp, während er seinen Blick weiterhin in das Buch
fallen ließ, das er gerade las. "Darf ich einmal sehen, was du da
liest?" Nun endlich hob Dennis seinen Blick zu Torben, und reichte
ihm das Buch. "Grundlagen der Analysis - das ist ja Mathe, Stoff der
Oberstufe!" "Ja, das ist Mathe, rein logisch, eindeutig wahr und
richtig, viel einfacher also als Religion." Dennis streckte seine
Hand aus, um das Buch zurückzunehmen. Ein besonders umgänglicher
Anhänger Christi scheine er ja nicht zu sein, dachte Torben, der
sich so einfach allerdings nicht abfertigen lassen wollte und des-
halb fortsetzte:"Wenn Du in Geschichte solche Reden hältst und
Dich in Mathe schon mit dem Stoff der Oberstufe befaßt, dann warst
Du in Deiner alten Klasse bestimmt der beste Schüler?"
Dennis hatte das Buch wieder an sich genommen und bereits
begonnen, sich darin zu vertiefen. Nun hob er seinen Blick
zu Torben und sagte:"Nein, das kann man jedenfalls nicht sagen."
Und wiederum versank Dennis Blick im Buche, so daß es Torben
langsam zu bunt wurde. Wer war dieser geistige Überflieger eigent-
lich, daß er so mit ihm umging? Und wie sollte es möglich gewesen sein,
daß einer wie er "jedenfalls nicht" Klassenbester gewesen sei? Was
sollte denn dann erst der Beste geleistet haben? Während Torben vor
Dennis stand wie ein Hund vor verschlossener Türe im Regen, traten
plötzlich Till Tollmann und Jens Walters hinzu, der gemeine Jens
Walters, dem er eine blutende Nase und den bewegenden Moment der Be-
gegnung mit Nette zu verdanken gehabt hatte. Anders als Jens war Till
Tollmann in der selben Klasse wie Torben, doch aus Torbens Sicht ein
ebenso unangenehmer Zeitgenosse wie Jens Walters.
Till protzte damit, daß sein Vater bei der Kriminalpolizei tätig sei,
und schien nach Torbens Ansicht zu meinen, daß er selbst aus diesem
Grunde etwas Besonderes sei und sich gar bei beliebigen Gelegenheiten
als Ordnungshüter aufspielen dürfe, was er allerdings nur dann tat,
- 17 -
wenn er Dank dritter Hilfe oder eigener Kraft meinen konnte, sich
absolut sicher sein zu können, daß nichts schiefgehen werde.
Es konnte aus Torbens Sicht nichts Gutes bedeuten, daß Till und Jens
nun aufkreuzten.
"Hi Dennis, Du sagst, daß Du gar nicht in der Kirche seist? Weißt
Du noch nicht, daß hier in Albring alle in der Kirche sind, und
zwar in der evangelischen?" Till Tollmann hatte einen Ton angeschlagen,
der offensichtlich autoritär und drohend wirken sollte. Dennis sah
von seinem Buch auf, sah Till emotionslos an, und erwiderte trocken:
"Nicht alle in Albring sind Mitglieder in der evangelischen Kir-
che, ich jedenfalls nicht." Ungerührt senkte Dennis seinen Blick
wieder in das Buch. "Laß ihn gefälligst in Ruhe", mischte sich
Torben gegenüber Till ein, "es geht Dich überhaupt nichts an, ob
Dennis Mitglied in der Kirche ist oder nicht. Wenn Du jemanden be-
kehren willst, dann geh doch zu Fedaji und seinen Freunden. Die sind
auch nicht in der evangelischen Kirche, werden Dir auf Deine Fragen
aber sicherlich gern Antworten geben." Torben wußte, daß Till
die türkischen Schüler nicht mochte, es aber nicht wagte, sich mit
ihnen anzulegen. Immerhin gab es einige unter den türkischen Schülern,
die nichts besser waren als Jens Walters und er selbst.
"Was die Türken machen, geht mich nichts an. Es geht mich aber etwas
an, wenn Dennis erklärt, Luther habe die
evangelische Kirche nur gegründet, um als Priester ficken zu können,
und die ganze Kirche sei nichts als Lug und Trug. Ich wundere mich
darüber, daß Du als Sohn eines angesehenen Albringer Bürgers,
der ein hohes Ehrenamt in der Kirchengemeinde bekleidet, die Nähe
dieses Kirchbeschmutzers suchst." Bevor Torben etwas erwidern konnte,
klappte Dennis sein Buch zu, sah wieder auf und sagte zu Till:
"Vielleicht hat Torben ja eine eigene Meinung, darauf soll in diesem
Lande immerhin ein Recht bestehen, das sicherlich auch in Alb-
ring nicht außer Kraft gesetzt ist. Was wünschst Du also bitte, womit
darf ich Dir helfen?"
Dennis war im Tonfall ruhig und verbindlich gewesen, und sah Till
so freundlich an, daß man zumindest meinen mußte, er wolle Tills
Wünsche herzlich gern erfüllen, soweit ihm dies eben möglich schiene.
"Ich, ich, ich will..." - Till mußte eine andere Reaktion erwartet
haben, jedenfalls gelang es ihm nicht, aus dem Gestammel heraus zu
irgendeiner Erklärung dessen zu gelangen, was er eigentlich wollte.
"Was er will, ist doch ganz klar!", schaltete sich nun Jens Walters
ein. "Du, Dennis, kommst von sonstwoher und erklärst als erstes,
daß wir hier alle im Irrtum lebten und Du der Neunmalkluge seist, der
sich über unsere Blödheit nur wundern könne. Ich bin in der evange-
lischen Kirche, was meinst Du, Dennis, bin ich blöd?" Jens hatte
einen Schritt nach vorn gemacht und war Dennis bedrohlich nahe
gekommen. Dennis sah nun Jens Walters an, und ohne Angst zu
zeigen, antwortete er freundlich:"Ich kenne Dich zwar nicht, aber
weil ich Dir damit bestimmt Freude bereiten kann, nehme ich an, daß
Du sehr intelligent seiest. Und Du könntest mir nun Freude bereiten,
indem Du mich in Ruhe lesen ließest." Dennis öffnete sein Buch wieder
und schien das Lesen fortzusetzen.
Jens war anzumerken, daß er innerlich schäumte - dieser Dennis
ließ sich offenbar weder provozieren, noch gab er klaren Anlaß, ihm
eine 'reinzuhauen. "Was liest unser Wunderkind denn?" fragte Jens
gehässig und riß Dennis dabei das Buch aus der Hand. "Grundlagen
der Analysis - sieh mal an, unser Neunmalkluger ist auch noch ein
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Streber!" Dennis wirkte völlig entspannt, als er zu Jens aufsah
und erwiderte:
"Würdest Du bitte so freundlich sein, mir mein Buch zurückzugeben?"
"Würdest Du bitte so freundlich sein", äffte Jens nach, "Du scheinst
ja nicht nur neunmalklug und strebsam zu sein, sondern auch noch über
ein ganz besonders vornehmes Wesen zu verfügen. Auf einen wie Dich
warten wir hier in Albring schon seit Ewigkeiten. Hole Dir doch Dein
Buch!" Bei diesen Worten warf Jens das Buch über die Schulhofmauer.
Sein Arm war noch vom Wurfe ausgestreckt, als Dennis diesen blitz-
schnell am Handgelenk faßte, ein Ruck, und Jens Walters Arm war
hinter dessen Rücken so verdreht, daß Dennis Jens völlig im Griff
hatte und ihm bereits mit kleinstem Krafteinsatz starke Schmerzen
zufügen konnte. "Wenn Du nichts dagegen hast, dann werden wir mein
Buch nun gemeinsam holen", sagte Dennis, und schob Jens zum Ausgang
des Schulhofes vor sich her. Torben wußte nun, weshalb Dennis so
ruhig und frei von Angst geblieben sein konnte, und auch Till schien
dies zu begreifen, er machte jedenfalls keine Anstalten, Jens aus
seiner wenig angenehmen Lage zu befreien.
Mittlerweile hatte die Szene Aufmerksamkeit erregt, und während
Dennis samt Jens, der das Buch wieder in der Hand hielt, aus seiner
mißlichen Lage aber immer noch nicht befreit war, zurückkehrte,
kam die Pausenaufsicht in der Person der Religionslehrerin Spreng-
mann hinzu. Kaum hatte Jens Walters dies bemerkt, so setzte er
er den gequältesten und mitleidsheischendsten Gesichtsausdruck
auf, dessen er nach Torbens Ansicht fähig sein konnte, obwohl ein-
deutig erkennbar war, daß Jens zwar nach wie vor von Dennis geführt,
aber keinesfalls gequält wurde.
"Laß sofort den armen Jungen los", herrschte Frau Sprengmann
den Dennis an. Dennis ließ Jens los, verzichtete aber darauf,
Frau Sprengmann zu beachten, hielt seine Hand zum Empfang des Buches
bereit und sagte zu Jens:
"Würdest Du bitte so freundlich sein, mir mein Buch zurückzugeben?"
Jens gab ihm nun das Buch mit den Worten:"Hier hast du es!", wäh-
rend Frau Sprengmann nachsetzte:"Was war hier los?"
Till beeilte sich, als erster Stellung zu nehmen:"Dennis hatte
gesagt, daß Luther unsere Kirche nur gegründet habe, weil er als
Priester Sex treiben wollte, daß unsere Kirche
mit wahrem Christentum nichts zu tun habe und daß wir evangelischen
Christen in Albring alle dumm seien. Und dann hat er Jens angegriffen
und gequält."
"Till lügt", warf Torben ein, während es der Frau Sprengmann bereits
anzusehen war, daß es Till durchaus gelungen sein mußte, sie gegen
Dennis aufzubringen. Torben setzte fort:
"Till und Jens waren hierher gekommen, um einen Streit mit Dennis
vom Zaune zu reißen. Als dieser darauf nicht eingehen wollte,
riß Jens ihm sein Buch aus der Hand und warf es über die Mauer, worauf
Dennis den Jens zwang, gemeinsam mit ihm das Buch zu holen. Dennis
hat nach meiner Meinung in der kultiviertesten Form auf Jens Frechheit
reagiert, die möglich war, Frau Sprengmann. Gequält hat er Jens ganz
gewiß nicht." Erst bei diesen Worten schienen Jens Schmerzen wieder
aufzuleben - er quälte seine Gesichtsmuskulatur und hielt sich
den Arm, als ob dieser stark schmerzte.
- 19 -
"Und was hat das Ganze mit Luther und der Kirche zu tun, Till?",
fragte Frau Sprengmann. Till:"Dennis hatte diese Sachen im Geschichts-
unterricht erzählt, und wir wollten dann wissen, ob er es wirk-
lich so meine." - "Im Geschichtsunterricht?" fragte Frau Sprengmann
ungläubig. - "Ja, bei Herrn Fischer." - "Im Geschichtsunterricht
bei Herrn Fischer ?" - Die Augen der Frau Sprengmann waren immer
größer geworden, und Torben meinte in ihnen lesen zu können, daß
sie dem Dennis alles und zudem dem Herrn Fischer wenigstens
fast alles zutraute.
Torben schaltete sich wieder ein: "Dennis hat niemanden beleidigt,
Frau Sprengmann.
Er hat allerdings die Meinung vertreten, die Reformation sei nicht
von christlichen Idealen getragen gewesen und Luther habe dabei
persönliche Interessen verfolgt, die mit dem Zölibat nicht verein-
bar gewesen seien."
Frau Sprengmann schien diese Auskunft Torbens nicht gerade zu beru-
higen, sie faßte erkennbar engagiert nach: "Und was hat Herr Fischer
dazu gesagt?" Offenbar sah Till wieder
eine Chance, die Eskalation zu Lasten des Dennis voranzutreiben:
"Herr Fischer fand die Worte des Dennis sehr beeindruckend, er schien
nahezu fasziniert gewesen zu sein." Das war zuviel für Frau Sprengmann,
die sich stets darum mühte, rechtzeitig für Oster- und Weihnachts-
schmuck in den Klassen zu sorgen, die nie den kleinsten Zweifel daran
aufkommen ließ, daß die Tür von der EKD ins Jenseits direkt in die
ewige Seeligkeit führen mußte, für die Christsein und Evangelischsein
ganz eindeutig eins waren. "Herr Fischer fand
das beeindruckend, war fasziniert, und hat sonst nicht Stellung genom-
men?" Ihre Stimme signalisierte, daß die in ihren Worten liegende Ruhe
das Ergebnis angestrengter Unterdrückung heftiger Gefühle sein mußte.
"Herr Fischer hat ausdrücklich gesagt, daß er sich nicht in die Be-
lange Ihres Unterrichtes einmischen wolle und aus diesem Grunde nichts
zu Dennis religiösen Ansichten sagen könne, Frau Sprengmann", stellte
Torben richtig, es wohlweislich unterschlagend, daß er selbst
aufgefordert worden war, zur Rechtfertigung Luthers und der Kirche
anzutreten.
Frau Sprengmann rang erkennbar um ihre Fassung, als sie sich schließ-
lich an Dennis wandte: "Dennis, so heißt Du ja wohl, Du sollst wissen,
daß hier selbstverständlich jeder seine eigene Meinung haben und auch
äußern darf. Erwartet wird allerdings, daß auch die Meinungen anderer
akzeptiert und insbesondere auch die religiösen Gefühle anderer nicht
verletzt werden. Ich werde die Sache noch mit Herrn Fischer abklären,
möchtest Du etwas sagen?" - "Ich kannte Jens und Till bis vor
wenigen Minuten nicht einmal namentlich, ich denke aber, Sie werden
die beiden kennen. Halten Sie es für möglich, daß man deren religiöse
Gefühle verletzen könne? Fragen Sie die beiden doch einmal, wie die
zehn Gebote heißen und was sie bedeuten. Dem frechen Jens paßte es im
Übrigen nicht einmal, daß ich hier in einem Mathebuch las,
soll ich möglicherweise auch seine mathematischen Gefühle verletzt
haben? Da Ihnen offenbar an Christlichkeit gelegen ist, bitte ich
Sie höflich, während Ihrer Pausenaufsichten auf solche evangelischen
Musterknaben wie Jens und Till zu achten, daß sie nicht grundlos Streit
mit Schülern beginnen, die ihren Frieden haben wollen und niemandem et-
was getan haben."
Frau Sprengmann war dem Siedepunkte nahe, während längst eine größere
Traube neugieriger Schüler und Schülerinnen die Szene umringte.
- 20 -
"Ich kenne Jens und Till aus mehreren Jahren Religions-
unterricht. Ich kenne auch deren Eltern, die alteingessene Christen
sind. Wenn Du es in Frage stellst, ob man die religösen
Gefühle von Jens und Till verletzen könne, dann ist bereits das eine
unverschämte Beleidigung. Daß Du es dann noch wagst, mir mit Schnippig-
keiten zu kommen und mir zu sagen, wie ich die Pausenaufsicht führen
solle, ist eine
Frechheit, wie ich sie in meiner dreißigjährigen Laufbahn als
Lehrerin an dieser Schule noch nicht erlebt habe. Ich weiß es ganz ge-
nau, was ich zu tun habe, und brauche von niemandem Ratschläge, erst
recht nicht von Dir.
Ich werde wohl nicht umhin können, mich nicht nur mit Herrn
Fischer, sondern auch mit Deinem Klassenlehrer einmal intensiv zu unter-
halten. Dann werden wir sehen, ob es womöglich ein Fall für die
Schuldirektion wird. Und nun alle auseinander!" Frau Sprengmann hatte
den Siedepunkt scheinbar überschritten, jedenfalls hatte sie die
letzten Worte aus sich herausgeschrien.
Torben staunte. Es hatte für Frau Sprengmann offenbar keine Rolle
gespielt, daß Jens und Till die Streithähne gewesen waren, sie hatte
die Einzelheiten des Streites nicht einmal zu klären versucht. Und
das, obwohl Jens und Till einschlägig bekannt waren und zudem nach
Torbens Ansicht kein vernünftiger Mensch hätte meinen können, daß diese
beiden über verletzbare religiöse Gefühle verfügten. Es waren familiäre
und gesellschaftliche Gewohnheiten, die die kirchliche Begleitung
jedes normalen Albringers von der Taufe bis zur Beerdigung bestimmten,
auch der Religionsunterricht wurde selbstverständlich absolviert,
aber ohne zu wissen, warum letztendlich. Daß gerade Till und Jens
nicht inbrünstig gläubige Ausnahmechristen waren, das war der
Frau Sprengmann nach Torbens Meinung klargewesen - der Frau Sprengmann
schienen fiktive Verletzlichkeiten offenbar bedeutsamer, als gewalt-
same Tyranneien unter Schülern, die ihrer Aufsicht unterstanden.
Till und Jens mußten
ähnlich bewerten wie Torben, denn sie warfen Dennis noch ein zynisches
Grinsen zu. Als Dennis und Torben wieder allein standen und Frau
Sprengmann sich bereits einige Meter entfernt hatte, ging ein mit-
leidsvoller Ausdruck über Dennis Gesicht und er sagte, in Richtung der
Frau Sprengmann, aber nur für Torben hörbar:
"Heb dich hinweg, du nichtsnutziger Drache!" Dann sah er Torben an und
erklärte:"Das ist Teil des Römischen Rituals zur Austrei-
bung des Teufels. Vielleicht hilft es ja der armen Seele der Frau
Sprengmann, die nun so gern ein Inquisitionsgericht über Herrn Fischer
und mich abhalten würde. Man darf ihr deshalb nicht böse sein. Wenn man
den oder die Dämonen aus ihr hinaustreiben würde, wäre sie sicherlich
ein wunderbarer Mensch." Torben fragte ungläubig:"Du glaubst an den
Exorzismus?" Dennis:"Ja, absolut, aber sicherlich nicht so, wie er
landläufig verstanden wird. Das organisierte Christentum ist Lug und
Trug, das gilt auch für den kirchlich organisierten Exorzsimus."

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